
Seit dem Jahr 1550 wird in Rheinberg nachweislich Karneval begangen – vielmehr: Mummenschanz, wie es damals noch hieß. Gefeiert wurde mit einem Maskenball, Theater, Gesang, Tanz – und sicher auch Rausch: Der Bürgermeister spendete den Narren traditionell zwei Tonnen Bier. Das beschreibt Stadtführer und Heimatforscher Werner Kehrmann in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post.
Ur-Karneval
Um die Wurzeln des Karnevals zu verstehen, müssen wir einen Schritt zurücktreten und uns anschauen, in welchem kulturellen Kontext das Fest einmal gestanden hat. Diesem Kontext hat der aus Rheinberg stammende Germanist und Philosoph Dr. Thomas Höffgen ein ganzes Buch gewidmet: „Karneval im alten Europa“ heißt es. Darin berichtet Höffgen von Ursprung, Brauchtum und Bedeutung eines heidnischen Verkleidungskultes, der in jenem europäisch-archaischen Festzyklus konserviert ist, den wir heute als Karnevalszeit bezeichnen: Vom alten Winteranfang am 11. November bis hin zum alten Sommeranfang am 30. April widmeten die Menschen ihre Feste und Aufmerksamkeit den wilden, animalischen Seiten des Menschseins, die wir als Mitglieder einer christlich-zivilisierten Kultur gelernt haben zu unterdrücken.
Karneval und das Narrenschiff
Das Wort Karneval geht auf den carrus navalis zurück, einen rituellen Schiffskarren, den Römer, Griechen und Germanen an hohen Feiertagen in Umzügen reich geschmückt über die Felder und durch die Natur zogen. Kernelement des Karnevals ist die Überwindung gesellschaftlicher Grenzen und Werte – die Verkleidung, das lärmende Treiben und das Schiff, das an Land fährt, sind äußerliche Phänomene eines inneren, psychologischen Ereignisses, bei dem der Einzelne sich im Geiste über die Grenzen seiner vertrauten, vernunftbasierten Welt und Wirklichkeit hinauswagt, um andere Seinszustände zu erfahren. In diesem Zustand des Außer-sich-Seins ist alles anders, verkehrt (= umgedreht): Menschen werden zu Tieren, Teufeln oder Toten, Sklaven werden zu Königen, Männer zu Frauen, Frauen zu Männern, erklärt Höffgen.¹
In seinem Werk „Traumzeit“ beschreibt der Anthropologe Hans Peter Duerr ein Beispiel aus dem Jahr 1133: Es fuhr dazumal ein „hölzernes Narrenschiff von Corneliusmünster […] nach Looz. In den Orten, in denen das Schiff hielt, erfaßte die Frauen eine ekstatische Wildheit: Halbnackt, mit aufgelösten Haaren […] umtanzten sie das Schiff und trieben hernach etwas, von dem der berichterstattende Mönch nur weinen oder schweigen zu können erklärte.“²




Vorchristliche Neujahrs- und Winterfeste
Die Karnevalszeit ist ein durch und durch vorchristlicher Festzyklus: „Seit jeher feierten die Menschen ein hehres Winter-, Neujahrs- oder Frühlingsfest mit ausgelassenem Verkleidungsspiel und Kulttänzen, um den Winter auszutreiben und die warme Jahreshälfte auszurufen.“ Mithilfe von Masken, Musik und Tanz galt es die Schneedämonen zu vertreiben und die Sonnengeister anzulocken. Karneval basiert „auf astronomischer Erkenntnis und Erfahrung: Genau genommen handelt es sich um ein Sonnenfest“, so Höffgen.³
Ein Fest, das übrigens auch in unserer Weihnachtszeit konserviert ist. Das Zentrum der Sonnenfeiern war die Wintersonnenwende, die nach dem heute üblichen gregorianischen Kalender auf den 21.12. fällt. Die Wintersonnenwende ist „die Keimzelle des Karnevals“ und der Ursprung der christlichen Weihnacht; sie ist der Scheitelpunkt des heidnischen Neujahrsfests, in dem der Tod der Sonne und ihre Wiedergeburt gefeiert und mit allerlei Verkleidungskulten und enthusiastischen Ritualen begangen werden.⁴ Doch dazu in einem anderen Beitrag mehr.
Unterdrückung des Karnevals durch die Kirche
Als die katholische Kirche ihre Macht in Europa im Mittelalter ausbauen und festigen wollte, war ihr der heidnische Mummenschanz ein Dorn im Auge: Den christlichen Missionaren galt das Brauchtum als „Teufelsdienst“, dem die Kirche mit Verboten und Vorschriften begegnete. Weil die ungläubigen Heiden trotzdem am alten Brauchtum festhielten, integrierten listige Kleriker die Bräuche in den katholischen Kalender und die heidnischen Verkleidungskulte wurden kurzweg christianisiert, erklärt Höffgen.⁵
Die Bekämpfung alles Nicht-Christlichen, vornehmlich Heidnischen im Zuge der Christianisierung wird auch Verteufelung oder Dämonisierung genannt und ist gekennzeichnet durch eine Verbannung oder Umdeutung heidnischer Bräuche, Symbole und Überzeugungen. Schon im siebten Jahrhundert habe der christliche Kalender den Eindruck erweckt, er sei „eine Kopie des Heidnischen“, schreibt der Historiker Jean Claude Bologne in seinem Werk „Von der Fackel bis zum Scheiterhaufen“.⁶ Heidnische Elemente, die sich nicht christlich vereinnahmen ließen, wurden ins Reich des Bösen, Gefährlichen, Unangenehmen oder Verruchten verbannt.
11.11., 11 Uhr 11 – wieso?
Haben Sie sich schon einmal gefragt, was es mit der vierfachen 11 auf sich hat, die alljährlich die Karnevalssession einleitet? Höffgen weiß Antwort: In alten Zeiten, so der Forscher, markierte der 11.11. den Einbruch der Winterzeit. Die Ernten waren eingefahren, das Vieh eingestallt und das Leben spielte sich in den Gehöften ab. Höffgen weist darauf hin, dass die doppelte 11 auch eine numerologische, zahlenmystische Deutung zulässt: „In der heidnischen Weltanschauung wird die 11 mit dem Winter zusammengebracht; etwa trägt die 11. Rune im Futhark [Runenreihe] – Isa, ᛁ – die Bedeutung ‚Eis‘.“ Grundsätzlich komme der 11 bei den vorchristlichen Völkern Europas eine positive natursymbolische Deutung zu. Die Kelten etwa feierten bis zum 11.11. das zwölf Tage andauernde Samhain, das Ende des Sommers – ein keltisches Neujahrsfest, das dem Gott der Toten, der Unterwelt, des Friedens und der Fruchtbarkeit Cromm Cruach gewidmet war, und dessen Tradition, besonders das Sich-Verkleiden, teilweise im Halloweenbrauchtum konserviert ist.⁷
Herkunft der fünften Jahreszeit
Bis heute wird die Karnevalssaison die fünfte Jahreszeit genannt – ein Begriff, der ursprünglich die Rauhnächte zwischen der Wintersonnenwende und Epiphanias bezeichnete, die sogenannte Zeit zwischen den Zeiten. In den Rauhnächten ging in alten Tagen „eine sehr spezielle ‚Lufterscheinung‘“ um, witzelte der kürzlich verstorbene Ethnologe Dr. phil. Christian Rätsch in seinem Werk „Der Heilige Hain“. Die Rede ist von der Wilden Jagd, ein von „Rossgewieher, Hundegebell, Heulen, Peitschenknallen“, Glockenlärm und anderem Getöse begleiteter Narren- und Geisterzug im wilden Gefolge des Schamanengottes Wotan: „Einherjer (gefallene Helden), die Berserker, Totenseelen, Wölfe, Hunde und Hasen, Geister und Gespenster“ brausten mit ihm durch den Nachthimmel.⁸
Der Habitus der Wilden Jagd ist laut Höffgen „ein karnevaleskes Ritual, bei dem gespenstische Erscheinungen, halb Mensch, halb Tier, ekstatische Spiele inszenierten“. In der Wilden Gjoag der Gemeinden am Untersberg habe sie sich ebenso gehalten wie in den Perchtenläufen im Alpenraum. Die modernen Perchtenläufe sind laut Höffgen ein Erbe wilder Tanzkulte und archaischer Ekstaseriten, mit denen der Winter ausgetrieben wurde. Dabei sorgten die „großen Glocken, die die Perchten auf dem Rücken tragen, […] mit ihrem monotonen Klang für einen schamanischen Trance-Effekt“. Am letzten Tag der Perchtenläufe treten die Schönperchten als Vertreter der warmen Jahreszeit in einem rituellen Glockenkampf gegen die Schiechperchten als Vertreter der kalten Jahreszeit gegeneinander an, wobei das Licht den Sieg über die Dunkelheit davonträgt.⁹


Umgang mit einem naturmagischen Erbe
Alle alten Feste in der dunklen Jahreshälfte haben zu tun mit der Wiedergeburt der Sonne. In ihnen ist das naturmagische Erleben unserer Vorfahren konserviert – das wilde, vorzivilisatorische Weltbild lebte in Form von Bräuchen und Ritualen in den bäuerlichen Kulturen der germanischen Stämme fort und hat teilweise, aller Christianisierungsbestrebungen zum Trotz, bis in unsere Zeit hinein Bestand – nicht nur im Karnevalszyklus. Diese Beständigkeit ist nur gegeben, weil die Feste immer wieder neu erfunden wurden – und dabei leider oft genug für politische oder religiöse Zwecke missbraucht, man denke nur an die Einverleibung alles „Germanischen“ durch die Nazis, und natürlich die Jahrtausende währende Pervertierung alles Nicht-Christlichen durch die Kirchen.
Intuitiv fühlen manche von uns noch etwas von dem ursprünglichen Sinn hinter Verkleidungskulten und lärmenden Umzügen. Doch in den meisten Fällen sind sie zu einer tradierten Schablone verkommen, die wir mechanisch ausfüllen, ohne uns der Bedeutung ihrer Formen bewusst zu sein. Indem wir uns mithilfe unseres Verstandes erneut vertraut machen mit dem Weltbild unserer Vorfahren, können wir etwas des ursprünglichen Zaubers wiedererwecken, den die Kirche und ihre weltlichen Lakaien mit spitzer Zunge und scharfem Schwert ausgetrieben haben.
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Endnoten
- Höffgen, Dr. phil. Thomas: „Karneval im alten Europa. Ursprung, Brauchtum und Bedeutung eines heidnischen Verkleidungskultes“ (Darmstadt: wbg Academic, 2020), S. 12 & S. 20
- Duerr, Prof. Dr. Hans Peter: „Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation“ (Frankfurt a. M.: Syndikat, 1978), S. 39
- Höffgen: „Karneval …“, a.a.O., S. 15
- Ebd., S. 46f
- Ebd., S. 13
- Bologne, Jean Claude: „Von der Fackel bis zum Scheiterhaufen: Magie und Aberglaube im Mittelalter“ (Solothurn / Düsseldorf: Walther-Verlag, 1995), S. 68
- Höffgen: „Karneval …“, a.a.O., S. 28ff
- Rätsch, Dr. phil. Christian: „Der Heilige Hain: Germanische Zauberpflanzen, heilige Bäume und schamanische Rituale“ (Baden / München: AT Verlag, 2. Aufl. 2006), S. 16
- Höffgen: „Karneval …“, a.a.O., S. 52f